Auf der Suche nach Ursprünglichkeit

Dienstag, 25. Januar 2022, Rhein-Zeitung Koblenz & Region, Dr. Lieselotte Sauer-Kaulbach

Koblenz. Man fröstelt schon vom bloßen Hinschauen. Schneeflocken wirbeln durch die Luft, doch die Künstlerin, die da vor ihrer Staffelei mitten in der Natur sitzt, lässt sich davon kaum beeindrucken. Unverdrossen malt sie weiter an ihrem Bild, mischt Farben auf einer Palette. Yvette Kießling, die 1978 in Ilmenau geboren wurde und seit etlichen Jahren in Leipzig lebt, ist eine leidenschaftliche Anhängerin der Freilichtmalerei, deren Anfänge an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert liegen und die ihren Höhepunkt in der Zeit des Impressionismus erreichte.

2020/21 fand die Künstlerin, die von 1997 bis 2007 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst bei Arno Rink studierte, als „Artist in Residence“ des Kunstvereins Mittelrhein (KM) 570 hierfür einen geradezu idealen Ort, ein Atelier im Fort Konstantin. Das Malen in der freien Natur („plein air“) ist für Kießling wichtig, selbst wenn ihre Bilder, ihre Lithografien und Radierungen keine naturalistischen Abbildungen sein wollen – auch nicht diejenigen, die während ihres Aufenthalts am Mittelrhein entstanden sind.

„In meinen Arbeiten geht es nicht um das Festhalten des Vorgefundenen, sondern um das sinnliche Erforschen eines Ortes, einer Landschaft, wie sie etwa im Mittelrheintal über Jahrhunderte im Ringen zwischen Fluss und Mensch entstanden ist“, sagt Kießling und ergänzt: „Das geht hier am besten beim Malen direkt im Weinberg oder mit der Druckplatte am Rhein. So versuche ich, einen Ort zu erfühlen. Ich will den Betrachtenden einladen, nicht nur ein Gefühl für meine Bilder selbst, sondern auch für die Orte zu bekommen, an denen sie entstanden sind.“

Wichtig ist für sie das Naturerlebnis, die Naturerfahrung mit allen Sinnen. Das funktioniert nur, wenn sie selbst ein Teil dieser Natur wird, wenn sie eben nicht nur Staffelei und Palette, sondern auch schwere Lithosteine oder die Zinkplatten für die Radierungen in den Wald oder auch mal auf ein Boot schleppt. Denn Flüsse, der Rhein, die Elbe, Wasser überhaupt, spielen in den Landschaften Kießlings eine wesentliche Rolle. Für sie ist es das Element, das mehr als alle anderen Kraft und Ursprünglichkeit bedeutet, das sie aber auch mit Weiblichem in Verbindung bringt. „Wasser gestaltet selbst Landschaft. Das finde ich spannend. Zugleich gibt es an See, Meer oder Fluss auch immer etwas auf der anderen Seite. Davon trennt uns das Wasser zunächst. Ohne Wasser wäre Landschaft wüst und leer. Und: Wasser verbindet. Flüsse wie Rhein und Elbe sind die Lebensadern des Europa, wie wir es heute kennen.“

Kraft, Ursprünglichkeit. Es ist das Wesentliche einer Landschaft, das Kießling interessiert, das sie zu flirrenden, expressiven Farbräumen inspiriert, das von ihr schließlich zu energiegeladenen oder sensiblen Landschaften verdichtet wird. Die sind ihr wichtigstes Motiv, selbst wenn sie mal nicht plein air, sondern in ihrem Atelier in einer ehemaligen Baumwollspinnerei in Leipzig arbeitet. Wenn sie weder am Ufer der Elbe malt, der sie ab 2014 abschnittweise von der Quelle bis zur Mündung folgte, dort Bilder schuf, die mal in heißen Rottönen förmlich explodieren, mal in kühlem, maritimem Blau auftreten, noch am Ufer des Mittelrheins, wo sie den Spuren berühmter Vorläufer folgte, denen William Turners vor allem.

Doch auch wenn sie die Orte, die Standpunkte aufsuchte, die bereits Turner darstellte: Ihre Bilder sind keine romantisierenden Nachempfindungen, sind stattdessen eigenständige Interpretationen einer Landschaft, in der sich Natur und Kultur eng miteinander verbinden – obwohl Yvette Kießling das Ursprüngliche, Unberührte grundsätzlich vorzieht.

„An vermeintlich unberührter Natur und Landschaft“, sagt sie, „interessieren mich die Unberechenbarkeit, die Schönheit des Vorgefundenen, die Freiheit der Weite und natürlich das Lebendige. Kurz: Es ist das nicht vom Menschen Geschaffene, was mich fasziniert.“ Die Spuren der Zivilisation jedoch hält sie ebenfalls malerisch fest, egal, ob nun nicht mehr kultivierte Weinberge an den Ufern des Rheins oder ein wieder zum Urwald gewordener Mahagoniwald in Sansibar.

Ein Teil der am Mittelrhein entstandenen Arbeiten war indes bereits im August 2021 im Fort Konstantin zu sehen, nun zeigt der KM 570 in seinem Kunstraum in Ehrenbreitstein, Hofstraße 268, parallel zu Kießlings Frankfurter Galerie Leuenroth die Ausstellung „MittelRheinTal“ mit Bildern und Grafiken der Künstlerin.

Die Ausstellung wird am Sonntag, 30. Januar, um 15 Uhr eröffnet und ist in der Folge bis zum 20. März zu sehen, jeweils mittwochs und samstags von 15 bis 18 Uhr.

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