Rede zum 5-jährigen Jubiläum KM570 „VILLA BELGRANO“

Frau Dr. L. Sauer-Kaulbach, Neuwied


„Sie gingen geräuschlos den Kokosläufer des schmalen Korridors entlang. Glocken aus Milchglas sandten von der Decke ein bleiches Licht. Die Wände schimmerten weiß und hart, mit einer lackartigen Ölfarbe überzogen. Eine Krankenschwester  zeigte sich irgendwo, in weißer Haube und einen Zwicker auf der Nase, dessen Schnur sie sich hinter das Ohr gelegt hatte...An zwei Stellen des Ganges, auf dem Fußboden vor den weißlackierten, nummerierten Türen, standen gewisse Ballons, große, bauchige Gefäße mit kurzen Hälsen, nach deren Bedeutung zu fragen Hans Castorp fürs erste vergaß.
‚Hier bist du’, sagte Joachim. ‚Nummer vierunddreißig. Rechts bin ich, und links ist ein russisches Ehepaar – etwas salopp und laut, muss man wohl sagen, aber das war nicht anders zu machen. Nun, was sagst du?’
Die Tür war doppelt, mit Kleiderhaken im inneren Hohlraum. Joachim hatte das Deckenlicht eingeschaltet, und in seiner zitternden Klarheit zeigte das Zimmer sich heiter und friedlich, mit seinen weißen, praktischen Möbeln, seinen ebenfalls weißen, starken, waschbaren Tapeten, seinem reinlichen Linoleum-Fußbodenbelag und den leinenen Vorhängen, die in modernem Geschmacke einfach und lustig bestickt waren. Die Balkontür stand offen; man gewahrte die Lichter des Tales und vernahm eine entfernte Tanzmusik. Der gute Joachim hatte einige Blumen in eine kleine Vase auf der Kommode gestellt, - was eben im zweiten Grase zu finden gewesen war, etwas Schargarbe und ein paar Glockenblumen, von ihm selbst am Hange gepflückt...

Im Restaurant war es hell, elegant und gemütlich. Es lag gleich rechts an der Halle, den Konversationsträumen gegenüber, und wurde, wie Joachim erklärte, hauptsächlich von neu angekommenen, außer der Zeit speisenden Gästen und von solchen, die Besuch hatten, benutzt. Aber auch Geburtstage und bevorstehende Abreisen wurden dort festlich begangen sowie günstige Ergebnisse von Generaluntersuchungen. Manchmal gehe es hoch her im Restaurant, sagte Joachim; auch Champagner werde serviert...Sie hatten den erhöhten Tisch am Fenster genommen, den hübschesten Platz. An dem cremefarbenen Vorhang saßen sie einander gegenüber, die Gesichter beglüht vom Schein des rot umhüllten elektrischen Tischlämpchens. Hans Castorp faltete seine frisch gewaschenen Hände und rieb sie behaglich-erwartungsfroh aneinander, wie er es zu tun pflegte, wenn er sich zu Tische setzte – vielleicht, weil seine Vorfahren vor der Suppe gebetet hatten. Ein freundliches, gaumig sprechendes Mädchen in schwarzem Kleide mit weißer Schürz6te und einem großen Gesicht von überaus gesunder Farbe bediente sie, und zu seiner großen Heiterkeit ließ Hans Castorp sich belehren, dass man die Kellnerinnen hier ‚Saaltöchter’ nenne. Sie bestellten eine Flasche Gruaud Larose bei ihr, die Hans Castorp noch einmal fortschickte, um sie besser temperieren zu lassen. Das Essen war vorzüglich. Es gab Spargelsuppe, gefüllte Tomaten, Braten mit vielerlei Zutat, eine besonders gut bereitete süße Speise, eine Käseplatte und Obst. Hans Castorp aß sehr stark, obgleich sein Appetit sich nicht als so lebhaft erwies, wie er geglaubt hatte. Aber er war gewohnt, viel zu essen, auch wenn er keinen Hunger hatte, und zwar aus Selbstachtung.“


Meine Damen und Herren, was könnte besser als Einleitung zu einer Ausstellung in einer ehemals als Kur-Klinik fungierenden Villa des 19. Jahrhunderts geeignet sein als ein Zitat – Sie haben es sicher erraten – aus Thomas Manns „Zauberberg“? Für mich schildert dieser Roman perfekt die morbide Atmosphäre eines solchen Hauses zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die eigentümliche Mischung aus schönem Schein und Aussichtslosigkeit, die auch das Bild der in ihm versammelten Gesellschaft prägt. Das Zitat umreißt kurz und knapp und doch anschaulich die Szenerie, in die der lungenkranke Hans Castorp in einem Davoser Sanatorium gerät, erwartet von seinem Freund und Vetter Joachim Ziemßen. 

Eine solche Einleitung muss erst recht sein, wenn diese ehemalige, leider nun selber von allen Anzeichen der Vergänglichkeit erfasste Villa (gäbe es doch nur jemanden, der eine Reha-Kur für dieses unter Denkmalschutz stehende Gebäude zu finanzieren bereit wäre!) nicht nur als austauschbarer und x-beliebiger Ausstellungsort dient, sondern als ein Ort, mit dem sich die elf Künstlerinnen und Künstler des die Villa seit 2003 „bespielenden“ Kunstvereins Mittelrhein KM 570 in ihren Arbeiten ganz gezielt auseinandersetzen, mit ihr und mit ihrer wechselvollen Geschichte. Um 1880 beauftragte der in seiner argentinischen Wahlheimat zu Reichtum gelangte Geschäftsmann Fritz Mallmann seinen aus Berlin nach Boppard übergesiedelten Schwager, den Architekten August Heins, für ihn und seine Frau, der das Klima besonders in den Sommermonaten in Argentinien nicht bekam, eine Villa zu bauen. Heins, der sich mit anderen historisierenden Prachtbauten vor Ort – der Villa Thonet oder der neogotischen „Königsvilla“ – bereits einen guten Ruf erworben und auch die Pläne für den Aus- und Umbau von Gut und Schloss Schönberg geliefert hatte, kam dem gerne nach und entwarf ein zweigeschossiges Gebäude aus gelbem Ziegelblender und rotem Sandstein, im Stil der oberitalienischen Renaissance wie die von ihm umgestaltete „Weiße Villa“. Ende der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts kaufte Mallmann das dafür und für den geplanten Park notwendige Areal an, darunter einen 2800 Quadratmeter großen Weinberg, einen Teil der Hintergasse, einige Winzerhäuser und die so genannte „Villa Somborn“. 1889 stimmte der Bopparder Stadtrat den Bauplänen zu und die Arbeiten an der Villa Belgrano, so genannt nach dem Vorort von Buenos Aires, in dem die Mallmanns lebten, konnten beginnen.

Trotz aller sorgfältigen Planung, trotz allem Luxus aber genoss die Familie nicht eben oft ihren Sommersitz. Die Anreise war halt gar zu mühsam, auch wenn man extra eine Kuh als Frischmilchlieferant für die Kinder mit aufs Schiff nahm. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts wurden deshalb Villa und Park versteigert und für 144 000 Mark von einem Herrn Weltmann erworben. Damit begann die wechselvolle Geschichte des Hauses, deren vorerst letzte Etappe die Nutzung als Kur- und Kneippanstalt war. 

Ein solch geschichts- und geschichtenträchtiger Ort wie die Villa Belgrano kann Künstlerinnen und Künstler einfach nur zu einem animieren: Dazu, an, um und in ihm nach Spuren eben dieser Geschichte zu suchen, um aus und mit ihnen Kunst zu schaffen. Anlass dafür, dass dies ausgerechnet mit dieser Ausstellung geschieht, ist quasi der erste, obgleich noch kleine runde Geburtstag, den der Kunstverein Mittelrhein hier begeht, sind die fünf Jahre, die er die Villa Belgrano für seine Ausstellungsaktivitäten nutzen darf. So unterschiedlich, wie die Gäste des „Zauberbergs“, diejenigen sicher auch des Sanatoriums in der Villa Belgrano waren, so unterschiedlich sind auch die künstlerischen Ansätze und Vorgehensweisen.  

Beinahe philosophisch mutet der Ansatz der in Betzdorf lebenden Petra Heiden an, die bildende Kunst im Rahmen eines Lehramtsstudiums an der Uni Koblenz belegte. Ihr Bilderzyklus greift ein klassisches Thema der Malerei, der bildenden Kunst überhaupt auf, das der vier Jahreszeiten. Verknüpft in diesem Fall mit dem Fluss in unmittelbarer Nachbarschaft der Villa Belgrano, auf den auch die Kurgäste immer wieder geschaut haben dürften, von der prächtigen Terrasse herab oder bei ihren Spaziergängen im Park. Ein Fluss, der seinerseits, wie die Jahreszeiten, einen Kreislauf symbolisiert aus Wandel und ewiger Wiederkehr, aus Vergehen und Neubeginn. Vielleicht betrachtet man diese Dinge gerade dann, wenn man sich in einem Sanatorium aufhält, mit mehr Aufmerksamkeit und mit anderen Augen (darauf werden wir noch zu sprechen kommen). Die Heiden jedenfalls setzt sie nicht naturalistisch um, sondern lässt sich in ihren mit Acryl auf Leinwand gemalten Bildern vom Fließen und Verfließen des Wassers inspirieren, nimmt zurückhaltend mit dem Pinsel seine Wellenbewegung und den Wandel der Farben in den Jahreszeiten auf, baut in Collagemanier in eine Ecke des Bildes zeichnerische, chronologische Anspielungen auf die Villa Belgrano und ihre Bewohner ein, die Kuh beispielsweise, die die Mallmanns auf ihren Reisen von Argentinien mitbrachten, die Kneippwanne, die bei den Anwendungen eine Rolle spielte, die Banane des die gelbe Frucht wie ein Prüfsiegel auf Häuser der Kunst sprühenden Thomas Baumgärtel, die sie schon in besseren Zeiten als Ort der Kunst auswies, das Boot, das hoffentlich einer Zukunft entgegensteuert.

Ähnlich chronologisch geht die in Wien geborene, im Hunsrück lebende Ursula Mittelbach vor, deren künstlerische Entwicklung entscheidend von Dieter Crumbiegel mit beeinflusst wurde, in der einen ihrer insgesamt zwei Arbeiten vor, in einem Glas und Draht kombinierenden Objekt. Mit Draht eingesponnen, umhäkelt und zwischen Glas gebettet finden wir zwei Reproduktionen historischer Abbildungen, einen Plan von Boppard von 1894, auf dem die Lage der Villa Ecke Frauenbachstraße/Untere Rheinallee eingetragen ist, und eine Postkarte mit einer Ansicht der Villa von 1930 – noch nicht angenagt vom Zahn der Zeit. Der aber lässt sich auch durch Glas und Draht in seinem verhängnisvollen Werk nicht stoppen, und so dokumentiert denn die andere Arbeit der Mittelbach gerade eben diesen Verfall unerbittlich. Tut dies anhand von 20 Fotos, die alle in dem ehemaligen „Kapellchen“ aufgenommen wurden, überarbeitet mit Acrylfarben und Wachs, eingeschweißt, konserviert und auf Distanz gebracht zugleich in CD-Hüllen, die auch das Format der friesartig angeordneten Fotografien vorgeben.  

Mit Fotografien arbeitet ebenfalls die in Bendorf-Sayn und in Hamburg lebende Eva Vettel, die in den 1980er Jahren Kommunikationsdesign mit Schwerpunkt Fotografie in Mannheim studierte. Anders als beispielsweise bei Petra Heiden, die uns ja immerhin ein Fünkchen Hoffnung lässt, deutet in den Vettelschen Fotos alles auf den auch als Titel der Arbeit gewählten „Abschied“ und die damit verbundene Tristesse. Rissiges Mauerwerk, gesprungene Fenster, herabhängende Türbeschläge, offenstehende Kommodenschubladen und Schranktüren, nachlässig auseinandergerissene Betten. So, als ob die letzten Bewohner gerade erst fluchtartig dieses Etablissement verlassen hätten, wie Ratten ein sinkendes Schiff. Keine Zeit mehr, auch keine Notwendigkeit, aufzuräumen, Ordnung zu schaffen, Schubladen und Türen zu schließen, die Bettwäsche ordentlich abzuziehen und aufzustapeln.

Die Bettwäsche, die Angelina Konrad aus Bad Honnef selber zum Material ihrer Arbeit, für ihr „Belgrano-Memo“ nimmt, Fotodrucke auf Kissenstoff aus der Kurklinik, fein säuberlich als solcher markiert durch den aufgestickten Schriftzug. Genau wie in den Fotografien der Eva Vettel signalisieren auch hier auf die Wäsche aufgedruckte Fotos und Schriftzüge nur eins: Alles ist aus und vorbei, alles ist witzlos, keiner geht hier mehr zur Wirbelsäulengymnastik, ob mit oder ohne Turnschuhe, keiner braucht hier noch einen Termin für die Krankengymnastik oder strampelt und hampelt sich im Kraftraum ab, keiner interessiert sich mehr für sein Gewicht, und ob der Schlüssel zum Schwimmbad an seinem Platz hängt oder nicht, ist ebenso wenig von Belang, denn Wasser wäre ohnehin nicht mehr im Becken zu finden.  Aus, Schluss, vorbei, vorbei mit ernsthaften Ermahnungen, in Zimmern nicht zu rauchen oder die Tafel in Schulungsräumen hübsch sauber geputzt zu hinterlassen. Wo niemand ist, muss keiner mehr ermahnt werden.

Bettwäsche aus den Restbeständen des Sanatoriums verwendet auch die in Köln geborene, in Mainz lebende Helga Persel, nutzt sie gleich mehrfach in ihren dadurch verbundenen beiden Arbeiten. Einmal spielen die Laken eine entscheidende Rolle als Motiv in ihren betont inszenierten Fotografien, aufgenommen in den Räumen der Villa. Je nach Anordnung und Situation der Laken im Raum spielt die Persel, die in Mainz studierte, damit auf verschiedene historische Zustände an, so, wie wir es bereits von anderen Arbeiten her kennen. Da signalisieren beispielweise mit Laken verhüllte Möbel die anfängliche sporadische Nutzung der Villa Belgrano als Sommersitz. Fein säuberlich gefaltete und aufgestapelte Laken verweisen auf die Zeiten der Kurklinik, achtlos auf den Boden geworfene deuten auf Auflösung und Verfall. Aber immerhin gibt es ja noch eine Gegenwart, an der Sie jetzt gerade teilhaben und die auch Helga Persel nicht außen vor lässt, die Funktion der Villa als Ausstellungsort, auf den flächig im Raum ausgespannte Laken verweisen. Laken, die sie in ihrer Außen-Installation an zwei Stahlseilen zwischen Balkon und Linde flattern lässt, in einer Arbeit, die natürlich wieder Flüchtigkeit, aber durchaus auch positiv Reinigung, Leben, Bewegung, Veränderung andeutet
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Mit Schrift, ihrem ureigenen, für ihre Arbeiten charakteristischen Material, spürt dagegen Ute Bernhard, die von 1986 bis 1993 Kunsterziehung und Malerei in Karlsruhe studierte und jetzt in Koblenz lebt, der Geschichte der Villa Belgrano nach. Orte, Zeit, Vergehen von Zeit tauchen thematisch bei der Bernhard ohnehin immer wieder auf, Dinge, Begriffe, denen sie sich be- und umschreibend, assoziativ nähert, Worte zu einem homogenen Schriftbild aneinander reihend, sammelnd, zuordnend, meditierend, Schreiben als Möglichkeit, sich über Vorhandenes klar zu werden, aber auch als Gelegenheit, sich schreibend eine eigene Welt zu erschaffen. Der Betrachter, der einen Zugang zu dieser Welt finden will, muss sich Zeit nehmen, Schrift ist hier nicht nur rein ästhetisches, formales, sondern Bedeutung tragendes und vermittelndes Phänomen, und selbst wenn das einzelne Wort nicht wichtig sein mag, ergibt sich doch die Bedeutung der Arbeit erst aus der Summe der geradezu monoman wiederholten Wörter, entwickelt sich daraus die Kommunikation, auf die Ute Bernhard notwendig, aber eben alles andere als plakativ setzt.   

Eine Kommunikation, auf die auch Detlev Norgel mit seiner Installation „Sprechzeit“ anspielt, ein Titel, der unwillkürlich an die medizinische Nutzung der Villa denken lässt. Dahinter verbirgt sich eine „Scheintür“, ein gezielter Fake. Denn die Tür, mit der Norgel gleich doppelt eine doch eigentlich zum Durchgehen gedachte Raumöffnung verschließt, lässt sich nicht öffnen und nicht schließen, sondern ist als permanentes Hindernis konzipiert. Wären da nicht die in das falsche Türblatt in Augenhöhe eingeschnittenen kreisrunden Löcher, „Spione“, wie man sie von der Wohnungstür her kennt, die dem Außenstehenden das Gefühl vermitteln, doch nicht völlig ausgesperrt und unwillkommen zu sein, die zumindest die Illusion erzeugen, am Drinnen teilhaben zu dürfen – wenn er denn eine gewisse voyeuristische Neugier nicht scheut. 

Eine voyeuristische Neugier, die ja vielleicht gerade in einer Kurklinik auch eine gewisse Rolle gespielt haben mag, an einem Ort, wo man oder frau erstens Zeit die solchen Neigungen noch förderliche Langeweile hat. Hat nicht auch die Beschäftigung mit dem Leid anderer, mit dem der Mitpatienten etwas von Voyeurismus? Dann, wenn wir lieber wegschauen wollen und doch fast zwanghaft hinsehen? Auf jemanden beispielsweise, der an Krücken mühsam vorüberhumpelt? An Krücken, wie sie die in Gemünden im Hunsrück lebende Alice Stäglich, regelmäßige Teilnehmerin der Europäischen Akademie in Trier, in ihrem Wandobjekt „Memory“ verwendet, in die sie kleine, zerbrechlich anmutende Figürchen aus Holz und Pappmaché stellt und setzt, Inkarnation menschlicher Hinfälligkeit und Hilfsbedürftigkeit. Glücklich, wer in einer solchen physischen Ausnahmesituation beten und hoffen kann, wie es die Stäglich in ihrer zweiten, installativen Arbeit thematisiert, „Andacht am Fenster“, eine weiße, weibliche Gestalt (die mich ein bisschen an die Skulpturen der Eva Aeppli erinnert) auf einem eigenwilligen Rollstuhl hinter einem Fensterrahmen, der Schutzraum und Gefängnis zugleich sein könnte.

Ein Gefängnis, wie es auch der eigene Körper werden kann, dann, wenn er nicht mehr perfekt funktioniert, wenn man eine Klinik, ein Sanatorium aufsucht, eine Einrichtung, wie sie die Villa Belgrano einmal war. In diesem Zusammenhang sei mir noch einmal ein Zitat aus dem Mannschen „Zauberberg“ erlaubt, aus der Szene, in der Hans Castorp den Vetter zur Untersuchung bei Hofrat Behrens und dem ihm assistierenden Dr. Krokowski begleitet und ihn dabei beobachtet. 
„Immer war er gut körperlich gesinnt, viel mehr als ich, oder doch auf andere Weise; denn ich war immer ein Zivilist, und es war mir mehr um warm baden und gut essen und trinken zu tun, ihm aber um männliche Anforderungen und Leistungen. Und nun ist auf so ganz andere Weise sein Körper in den Vordergrund getreten und hat sich selbständig und wichtig gemacht, nämlich durch Krankheit. Illuminiert ist er und will sich nicht entgiften und solide werden, so gern der arme Joachim auch Soldat sein möchte im Flachland. Sieh an, er ist gewachsen, wie es im Buche steht, der reine Apollo von Belvedere, bis auf die Haare. Aber innerlich ist er krank und außen zu warm von Krankheit; denn Krankheit macht den Menschen viel körperlicher, sie macht ihn gänzlich zum Körper...“

Krank ist mittlerweile auch, wenn Sie so wollen, die Villa Belgrano – und die Arbeit der Usch Quednauunterstreicht diese Diagnose, setzt das Leiden der Menschen und der Architektur in engen Zusammenhang. Die Quednau, die in Wiesbaden Kunst studierte, unterstreicht diesen Zusammenhang durch das gewählte Material ihrer Arbeit, sechs Röntgenbilder, Aufnahmen lädierter Wirbelsäulen, Knie, Becken, Brustkörbe und Schädel, die sie genauso in der Villa aufgestöbert hat wie die auf sie geklebten Wattepads, auf denen fotografisch das Leiden des Hauses festgehalten wird. Formale Entsprechungen verstärken die Analogie. 

Angesichts dieses Zustandes des architektonischen Patienten ist es desto wichtiger und löblicher, dass sich die Künstlerinnen und Künstler für diese Ausstellung auf Spurensuche gemacht haben, um zumindest in ihren Arbeiten etwas festzuhalten, was morgen schon bei nicht einsetzender Therapie endgültig verschwunden sein könnte. Der Begriff der „Spurensuche“ trifft erst recht die Vorgehensweise von Ute Krautkremer zu, die dabei einmal mehr ihrer Lust am und ihrer Offenheit zum Experiment freien Lauf lässt. Die mit dem Material ans Werk gegangen ist, das ihr eben diese Offenheit gestattet, einer selbst angesetzten Papiermasse, mit der sie die gesammelten Spuren ohne Umwege festhalten kann. Spuren von Räumen der Villa, von Tapeten, Reliefs, Stuckverzierungen, die in einem aufwändigen Schaffensprozess abgeformt und nachgegossen wurden, die Formen und Farben aufnehmen und nun zu Friesen angeordnet wurden, ähnlich, wie es die Mittelbach mit ihrer Fotoserie tut. Auch diese Anordnung ist eine Anspielung, Friese spielen als Schmuckform in der Villa Belgrano schließlich eine wichtige Rolle. 

Ähnlich steht das Sammeln von Spuren am Anfang der Arbeit von Cornelia Kurtz, der Berlinerin in Boppard, die eigentlich von der Buchbinderei her kommt und übers Buch zur Illustration und zur Malerei gelangte. Die Kurtz fotografierte Muster, Ornamente, Strukturen im Haus, also die Dinge, die auch Ute Krautkremers Material bildeten, und entwickelte aus diesen Dingen Zeichen, Symbole, die sie für ihre Bilder nutzte und auf Folien, beschichtet mit einem gleichfalls in der Villa gefundenen feinkörnigen Stoff, übertrug. Diese dem Raum, dem Haus entnommenen Zeichen, Symbole kehren als Kunst in die Villa  zurück, werden wieder, wenn auch nur sporadisch, ein Teil von ihr, ein Teil der Fenster der großen Halle. 

Kunst als Spurensuche, als Möglichkeit, Vergängliches zu bewahren, auf Vergehen aufmerksam zu machen und so vielleicht doch aufzurütteln und der Zukunft eine Chance zu eröffnen. Es wäre schön, wenn diese Therapie gelänge, wenn die Diagnose für den Patienten Villa Belgrano nicht schon bald sämtliche Heilungschancen ad absurdum führt.
Dr. Lieselotte Sauer-Kaulbach

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