Komm lass uns fliegen
Wie sich geistig behinderte Künstler im Frankfurter Atelier Goldstein verwirklichen
von Peter Schmidt: zu sehen bei Kunst-Szene (http://infokanal.zdf.de)
Vor sieben Jahren gründete der Verein Lebenshilfe Frankfurt das Atelier Goldstein, in dem außerordentlich begabte geistig behinderte Künstlerinnen und Künstler unter professionellen Bedingungen arbeiten können. Menschen, die sonst nie einen Weg in den Kunstbetrieb finden würden. Hierbei entstehen Werke, die in der Kunstszene Beachtung finden und in der ganzen Welt in Museen zu bewundern sind. Regisseur Peter Schmidt und Kameramann Jan Prillwitz haben die Künstlerschmiede über einen Zeitraum von acht Monaten begleitet. Ihre Reportage gibt einen intensiven Einblick in die Arbeit des Ateliers, gezeigt werden aber auch kleine Episoden aus dem Privatleben der Künstler.
"Ich bin so glücklich mit mir", ruft Hans-Jörg Georgi, und er lacht schallend über sich selbst und seine innere Freiheit. "Ich liebe Euch alle!" Der Mann sitzt ganz nah an einer Leinwand, und sein lautes Lachen erfüllt das riesige Atelier. Die Kamera schaut stumm zu, wir verkneifen uns jede Äußerung. Behinderte Künstler, Künstler mit Handicap, Behinderte, die malen - jeder Definitionsversuch schlägt fehl.
Um 16 Uhr beginnt das Leben
Es sind Menschen wie du und ich, aber Menschen mit einer ganz besonderen Begabung, sie sind hoch anerkannte Künstler. Ihre Werke stehen mittlerweile in den Museen der Welt, in China, in Japan überall in Europa, und sogar die US-Amerikaner strecken ihre Fühler ins Frankfurter Atelier Goldstein aus. Birgit Ziegert, Christa Sauer, Stefan Häfner, Holger Frischkorn und Hans-Jörg Georgi: die großen Stars des Ateliers.
Tagsüber gehen sie in die Behindertenwerkstatt, machen stupide Arbeiten für ein bisschen Lohn und eine hoffentlich sichere Rente. Nachmittags ab vier beginnen sie zu leben. Im Atelier, mit voller Kraft und all ihrem Sein steigern sie sich oft Tag für Tag in ihre Kunst hinein. Dabei verlieren sie die Bodenhaftung, werden zu ganz besonderen Menschen. Sie tauchen ab in eine Welt, fast schwingen sie sich schwerelos empor, und wir sind nur noch die staunenden Zuschauer.
Stumpfsinnige Vorurteile
Viel zu wenige der Werke werden verkauft. In Japan oder in Belgien verkaufen sie sich auf internationalen Kunstmessen besser als in Deutschland. Das Atelier kann sich mit den Erlösen aus den Kunstwerken nicht finanzieren, öffentliche Gelder sind notwendig, damit sich das Atelier über Wasser halten kann.
Kämpft gegen Vorurteile - Christiane Cuticchio
"Wer die Werke ohne die Künstler sieht ist begeistert, doch sehen die potentiellen Käufer die Künstler dahinter, die Autisten, die Menschen mit Down Syndrom oder sonstigen Verhaltenskomplexen, dann drehen sie sich oft ab, rümpfen die Nase. Das macht es schwierig", berichtet Christiane Cuticchio, die Leiterin des Ateliers. Stumpfsinnige Vorurteile. Und dagegen kämpft sie, tagtäglich.
Er hat sich zurückgezogen. Mit seinen dunklen, frisch getönten Haaren - färben, so erzählt er, schädigt die Haare - mit seinen hellen Augenbrauen sitzt er auf einem Bett, das wie ein Alkoven in eine Jugendwohnwand aus Holzimitat eingebaut ist. Er blickt uns an. Wie gut sieht er uns eigentlich? Die Augen von Hans-Jörg Georgi sind schwer geschädigt. Niemand weiß so recht wodurch, niemand kann genau sagen, was er sieht und wie viel er wahrnimmt mit seinen organischen Augen.
Seine emotionalen Augen hingegen haben uns längst durchschaut. Er blickt, so scheint es, bis in den Abgrund einer jeden Seele. Aber immer liebevoll. Sein Leben, seinen Alltag nennt er die "weiße Hölle". Und so malt er seine Bilder. Er sieht in die Menschen hinein und malt seine Lieblingsvorstellungen, was er in den Menschen sehen mag.
Wunderbare Welt der Elfen
Birgit Ziegert tanzt mit ihrem üppigen Körper vor einem Hochzeitskleid, sie näht es zusammen, mit dicken schwarzen Applikationen, mit Rüschen, mit enger Taille. Im Hintergrund läuft Griegs Peer Gynt. Wir werden zu staunenden Zuschauern. Fast federleicht wirkt Birgit Ziegert, wenn sie in ihre Kunstwelt abtaucht.
Birgit Ziegert - Menschen und Tiere sind ihre Welt.
"Die Musik hab' ich mir ausgesucht, ich mag das, dann kann ich besser arbeiten", antwortet sie in unsere kritischen Gesichter, die nicht glauben wollen, was sie hören und sehen. "Und das hab alles ich gemacht, ja, schaut nur hin." Birgit entführt uns in ihre wunderbare Welt der Tiere, Elfen und Gestalten, die jeden Betrachter in ihren Bann ziehen.
Zuschauer als Kunstvoyeur
Sich von Kunst und den Menschen einfach nur begeistern lassen. So ging es uns ein knappes Jahr lang im Atelier Goldstein. Wir - das bin ich, Peter Schmidt, als Autor und das sind Jan Prillwitz als Kameramann und wechselnde Assistenten. Ein ungewöhnliches 60-Minutendokument wurde daraus, ein Film, der die üblichen Vorgaben sprengt, der den Zuschauer zum Beobachter und Betrachter macht, zum Kunstvoyeur in einer ganz besonderen Künstlerkolonie, dem Frankfurter Atelier Goldstein.
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im ZDF, Sendung ab dem 24.05.2008